Was bringt es, Kulturhauptstadt zu sein?
Zum ersten Mal seit 15 Jahren stellt Deutschland mit Chemnitz wieder eine europäische Kulturhauptstadt. Die offizielle Eröffnung des Kulturhauptstadtjahres fand am 18. Januar 2025 mit einem großen Festprogramm statt. Doch was bringt es, Kulturhauptstadt zu sein? Wir gehen auf Spurensuche im Ruhrgebiet, das den Titel 2010 hatte.
Inhalt
Viel Kultur auf engem Raum
Laut, schmutzig, arm, voller Brennpunkte, grundehrlich, herzlich: Über das Ruhrgebiet gibt es viele Klischees. Als Reiseziel spielte es lange Zeit aber kaum eine Rolle. Ins Ruhrgebiet fuhr man nicht, um dort Urlaub zu machen, sondern um zu arbeiten.
Heute ist das anders. Reisebusse aus der ganzen Welt bringen Touristen auf das Gelände der Zeche Zollverein, der einst größten Schachtanlage weltweit.
Kreuzfahrtschiffe schippern an den Sehenswürdigkeiten entlang des Rheins vorbei, abends geht es ins Musical nach Bochum. Im Ballungsraum Ruhrgebiet ist viel Programm auf kleinem Raum möglich.
Aber das war nicht immer so. Aufmerksam wurden Kulturtouristen auf das Ruhrgebiet erst 2010. Damals teilten sich Essen und die Region unter dem Namen „Ruhr 2010“ den Titel der Kulturhauptstadt Europas.
Für die Region war das Kulturhauptstadtjahr ein wichtiger Motor für den strukturellen Wandel.
Industriedenkmäler wie der Gasometer Oberhausen verwandelten sich in eine Bühne für zeitgenössische Kunst und wurden gleichzeitig zu Symbolen für eine neue Orientierung.
Hohe Besucherzahlen
Seit 1985 vergibt die Europäische Union den Titel Kulturhauptstadt an Städte, die ihr kulturelles Erbe präsentieren und auf diese Weise einen Beitrag zur Idee des vereinten Europas leisten sollen.
Im Jahr 2025 sind das deutsche Chemnitz zusammen mit dem slowenischen Nova Gorica an der Reihe.
Aber wie erstrebenswert ist der Titel überhaupt? Bringt es der Stadt langfristig etwas? Oder ist es wie bei Olympia, wo viel Geld in eine Infrastruktur fließt, die nach dem Sportevent oft nutzlos verwaist?
Das Ruhrgebiet hat zweifelsohne profitiert. Zwar steht die Zeche Zollverein schon seit 2001 auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes. Aber das Jahr als Kulturhauptstadt hat das Bewusstsein noch einmal geschärft.
Wo früher mit Bandbrücken Kohle transportiert wurde, fahren heute Besucher auf einer futuristischen Rolltreppe ins Innere.
Die Farbgebung in Schwarz wie die Kohle und Orange wie geschmolzener Stahl erinnert genauso an die alten Zeiten wie die Fotos, die im Ruhr-Museum im Zollverein hängen.
Vor Ruhr 2010 gab es weniger als eine Million Besucher pro Jahr und die Touren für die Touristen waren improvisiert. Mit dem Titel kamen Projektionen, die den Abbau und die Wäsche der Kohle zeigen, im alten Dampfkesselhaus fand das Red Dot Design Museum ein Zuhause.
Künstler haben das Areal, zu dem früher nur Arbeiter Zutritt hatten, für die Öffentlichkeit erschlossen. Die Besucherzahlen liegen heute bei 1,7 Millionen jährlich.
Gute Gründe für eine Reise
Die letzte Steinkohlezeche in Nordrhein-Westfalen schloss 2018. Die Region musste eine Alternative finden und sich neu aufstellen. Mit der Kultur ist das gelungen. Inzwischen gehört jeder 14. Betrieb der Kultur- und Kreativwirtschaft an.
Eine Umfrage ergab, dass das Kunst- und Kulturangebot im Ruhrgebiet zu den Top-3-Gründen für eine Reise in die Region gehört. Gleichzeitig bescheinigten die Befragten der Region höhere Kompetenzen beim kulturellen Angebot als zum Beispiel in der Gastronomie oder der Natur.
Folgen Kulturtouristen der „Route Industriekultur“, kommen sie auch zu einem Hochhaus in der Nähe des Dortmunder Hauptbahnhofs. Auf seinem Dach leuchtet ein riesiges U, das einst das Markenzeichen der Union-Brauerei war.
1926 wurde die Brauerei als erstes Hochhaus in Dortmund gebaut. Doch mit dem Ende des Kohlebergbaus ging auch die Bierproduktion zurück und seit 1994 stand das rote Backsteingebäude leer.
Im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres wurde das Bauwerk zu einem 20.000 Quadratmeter großen Kreativzentrum umgebaut, in dem unter anderem das Museum Ostwall und der Hartware-Medien-Kunstverein beheimatet sind.
2016 wurde das Dortmunder U als europäische Kulturmarke ausgezeichnet, mittlerweile gehört es zu den fünf beliebtesten Museumshäusern in Deutschland. 15 Jahre nach Ruhr 2010 sind die Besucherzahlen um ein Vielfaches höher als im Kulturhauptstadtjahr selbst.
Nachhaltigkeit zählt
Jedes Jahr investiert Nordrhein-Westfalen rund 2,4 Millionen Euro in Nachfolgeprojekte von Ruhr 2010. Dazu zählen unter anderem die Ruhr-Kunstmuseen und die Ruhr-Bühnen, bei denen fast 30 Kulturinstitutionen zusammenarbeiten.
Dem Land war von Anfang an wichtig, nicht nur ein kurzes Strohfeuer zu entzünden, sondern etwas Nachhaltiges aufzubauen. Diese Nachhaltigkeit ist heute übrigens ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl künftiger Kulturhauptstädte.
Auch Chemnitz möchte einen Grundstein für die Zukunft legen. Über 800 Freiwillige haben dabei geholfen, das Gelände der ehemaligen Stadtreinigung in ein Kreativquartier zu verwandeln.
Dieses Engagement soll erhalten bleiben. Eine dauerhafte Veränderung erfährt das Stadtbild auch durch den Skulpturenweg „Purple Path“, auf dem sich renommierte Künstler verewigt haben.
Gelebtes Europa
Nicht immer bewirkt das Dasein als Kulturhauptstadt nur Gutes. In Liverpool zum Beispiel wurde ein beliebtes subkulturelles Zentrum aus der Innenstadt verdrängt, als sich die Stadt 2008 um den Titel bewarb.
In Marseille kam es 2013 zu Protesten, weil die Stadt regionale Künstler nicht mit einbezog, sich dafür aber ein Konzert eines Star-DJs viel Geld kosten ließ.
Die Auswahlkriterien scheinen mitunter etwas beliebig. Anders ist kaum zu erklären, warum mal Weltstädte wie Paris (1989) oder Kulturstätten wie Weimar (1999) Titelträger sind und mal unscheinbare Provinzorte wie Leeuwarden (2018) oder Veszprém (2023).
Auf der anderen Seite bekommt so jeder Ort in Europa die Chance, sein kulturelles Erbe mit Europa zu teilen.
Und ohne das Kulturhauptstadtjahr hätten wir vielleicht nicht erfahren, dass das einzige indigene Volk der EU im schwedischen Umea (2013) wohnt, van Gogh seine Karriere als Maler im belgischen Mons (2015) startete oder Aphrodite an einem Strand bei Paphos auf Zypern (2017) aus dem Meer entstiegen sein soll.
Die Bewerbung als Kulturhauptstadt bringt die Städte dazu, sich intensiv mit ihrer Identität zu befassen. Sie setzen sich mit Potenzialen, Besonderheiten und auch Problemen auseinander.
Auf diese Weise wird das Profil geformt, das eine Stadt unverkennbar macht, und gleichzeitig in den internationalen Kontext gestellt. Durch solche Vorgänge erreicht die europäische Idee unseren Alltag.
Gerade in diesen Zeiten kann so ein wichtiger Strukturwandel auf einer anderen Ebene in Gang kommen.
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